Migräne ist individuell. Das wird spätestens mit Blick auf das Krankheitsbild deutlich. Die derzeitige Unterscheidung in eine episodische und eine chronische Form gibt jedoch Anlass zur Diskussion: Warum Migräne neu definiert werden sollte und was das für die Therapie bedeutet, lesen Sie im folgenden Text.
Leitlinien: Migräneart entscheidend für die Therapie
Migräne als komplexe, neurologische Erkrankung hat verschiedene Ausprägungen. Beispielsweise spielt die Häufigkeit der Attacken eine besondere Rolle: Treten Kopfschmerzen an mindestens 15 Tagen pro Monat auf, wobei 8 Tage die Kriterien einer Migräne erfüllen müssen, spricht man laut IHS-Klassifikation von einer chronischen Migräne.1 Die korrekte Erfassung der Attackenhäufigkeit und die damit zusammenhängende Diagnose sind an dieser Stelle entscheidend für die Wahl der Therapie.
Debatte um Neudefinition chronischer Migräne
Doch lassen sich Betroffene mit einem so vielschichtigen Krankheitsbild wie Migräne immer eindeutig den Klassifikationen episodische oder chronische Migräne zuordnen? Welche Folgen hat diese Unterteilung für die Versorgung der Patient:innen, bei denen zum Beispiel die Attackenhäufigkeit stark schwankt, sie sich also nicht eindeutig zuordnen lassen? Auch im Rahmen der diesjährigen Tagung der American Headache Society (AHS) wurden diese Fragen aufgegriffen. Zwei amerikanische Experten diskutierten dort, ob chronische Migräne als eigenständige Diagnose gegenüber der nicht-chronischen (= episodischen) Migräne in der International Classification of Headache Disorders (ICHD) beibehalten werden sollte. 4,5
Ist der Schwellenwert von 15 Kopfschmerztagen pro Monat angemessen?
Eine zentrale Frage der Debatte war, ob der derzeitige Schwellenwert von 15 Kopfschmerztagen pro Monat für chronische Migräne alle Patient:innen mit hohem Leidensdruck adäquat erfasst. Hierdurch könnten unbeabsichtigt einige Menschen zurückgelassen und ein Ungleichgewicht in der Kopfschmerzversorgung geschaffen werden, kritisierte Prof. David Dodick, Mayo Clinic, Arizona, USA. In diesem Zusammenhang zitierte Prof. Dodick Studiendaten, die zeigen, dass eine erhebliche Überschneidung zwischen hochfrequenter, episodischer Migräne und niederfrequenter, chronischer Migräne in Bezug auf Leidensdruck, Einschränkung der Lebensqualität sowie Komorbiditäten besteht.6,7
Auch in einer weiteren Arbeit kommen die Autoren zu der Einschätzung, dass die Verwendung einer Schwelle von 15 Kopfschmerztagen pro Monat zur Einteilung von Migränepatient:innen in Untergruppen die Krankheitslast nicht angemessen erfasst. Stattdessen spiegele ein Schwellenwert von 8 Kopfschmerztagen pro Monat die Auswirkungen und Belastung der Migräne besser wider, so die Autoren.8
Sollten künstliche Schwellenwerte zur Definition genutzt werden?
Anstatt chronische Migräne insgesamt weiterhin anhand künstlicher Schwellenwerte als eigenständiges Krankheitsbild zu definieren, sollten nach Ansicht von Prof. Andrew Hershey, Universität von Cincinnati, USA, eher die fließenden Übergänge beachtet werden. Im wirklichen Leben, so der Experte, fluktuierten Betroffene über die Grenze zwischen episodischer und chronischer Migräne.4,5
Dies untermauert auch eine Untersuchung, die zeigt, dass ein Wechsel von episodischer zu chronischer Migräne häufig ist. Umgekehrt erfüllten fast 75 % der Patient:innen mit chronischer Migräne während eines 12-monatigen Beobachtungszeitraums zu mindestens einem Zeitpunkt „nur noch“ die Kriterien einer episodischen Migräne.9
Neudefinition könnte Untergruppe hochfrequenter, episodischer Migränepatient:innen umfassen
Wie sind diese Ergebnisse nun einzuordnen? Prof. Hershey zufolge führe einerseits eine klare Abgrenzung der chronischen Migräne zur Identifizierung und Anerkennung von Betroffenen mit einem besonders hohen Leidensdruck. Andererseits, so die Experten, sorge sie gleichzeitig dafür, dass sich trotz möglicherweise ähnlicher Krankheitslast von Patient:innen, die sich an den jeweiligen Grenzen von episodischer und chronischer Migräne befinden, die Therapien unterscheiden könnten. Insgesamt legten die Daten nahe, dass Migräne neu definiert werden sollte. Eine Neudefinition sollte nach Ansicht der Experten eine Untergruppe von Erkrankten mit hochfrequenter, episodischer Migräne und hoher Krankheitslast umfassen, die derzeit medizinisch unterversorgt ist.4,5
Bislang ist eine Neudefinition zwar nicht geplant, Betroffene können aber auf die enge Therapiebegleitung durch die behandelnden Ärzt:innen vertrauen. Diese wiederum sollten, neben den Empfehlungen der DGN Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne, weitere Faktoren zur individuellen Therapie der Patient:innen berücksichtigen.10 Wie das gelingen kann, hat kürzlich ein internationales Gremium von Migräne-Expert:innen in einem 10-Punkte-Plan10 dargelegt.