Weg von diagnostischen Kriteren - hin zur zugrundeliegenden Störung

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Die Erforschung transdiagnostischer Symptome zielt darauf ab, die zugrundeliegenden neurobiologischen Prozesse zu verstehen und so Behandlungen zu identifizieren, die diagnoseübergreifend wirksam sind. Dieser Ansatz stellt einen Paradigmenwechsel in der Psychiatrie dar.

Kann ein symptombasierter Ansatz eine standardisierte Einheitsdiagnose ersetzen, so dass die Heterogenität der Menschen berücksichtigt wird, die einer bestimmten Kategorie psychischer Störungen zugeordnet werden? Diese Frage ist für die Zukunft der Neuropsychiatrie zentral und steht im Fokus von Forschungsinitiativen wie dem PRISM-Projekt, das Merkmale von Biologie und Verhalten über diagnostische Grenzen hinweg untersucht.

Die Erforschung transdiagnostischer Symptome zielt darauf ab, die zugrundeliegenden neurobiologischen Prozesse zu verstehen und so Behandlungen zu identifizieren, die diagnoseübergreifend wirksam sind1. Dieser Ansatz stelle einen Paradigmenwechsel in der Psychiatrie dar, wie Prof. Gitte Moos Knudsen (Universitätsklinik Kopenhagen, Dänemark und Präsidentin ECNP) an einem Symposium des virtuellen EPA-Kongresses 2020 betonte.

Es gibt keine Behandlungsmethode, die zu allen Patienten innerhalb einer der klassischen Diagnosekategorien passt, da die Menschen, die diesen Diagnosen zugeordnet werden, eindeutig heterogen sind. Es ist auch klar, dass Menschen mit unterschiedlichen Diagnosen gewisse Symptome gemeinsam haben. Ein System, das auf transdiagnostischen Kriterien basiert, wäre daher sinnvoll. Die Entwicklung und Validierung eines solchen Systems ist eine langfristige Aufgabe. Es gibt allerdings bereits einige Hinweise auf relevante Merkmale.

So ist zum Beispiel die Beeinträchtigung des Langzeitgedächtnisses ein Symptom, das diagnoseübergreifend auftritt - von Alzheimer über Schizophrenie bis hin zu Epilepsie. In der Tat sei die Überschneidung von Epilepsie und Schizophrenie ein sehr interessanter Aspekt, zu dem Prof. Kndusen auch forscht.

Es besteht Heterogenität innerhalb einer Diagnose und Gemeinsamkeiten zwischen mehreren Diagnosen

Besitzen Depression und Epilepsie eine gemeinsame Ätiologie?

Ungefähr ein Drittel der Epilepsie-Patienten zeigen auch psychiatrische Symptome, beispielsweise Depressionen2. Es gibt Hinweise, das ein gemeinsamer neurologischer Mechanismus zugrunde liegen könnte: Zu den gemeinsamen Merkmalen gehören eine hyperaktive Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse, Anomalien in der kortikalen Struktur, Funktion und Konnektivität sowie eine erhöhte glutamaterge und eine verringerte GABAerge und serotonerge Aktivität.

Die Bemühungen, Gehirnerkrankungen vermehrt auf Basis gemeinsamer Symptome und Pathologien zu beschreiben, decken sich gut mit der Philosophie hinter der neuen, auf neurowissenschaftlichen Kriterien basierenden und für ZNS-Medikamente entwickelten Nomenklatur [Lesen Sie mehr hier].

Bis kategoriale Klassifikationssysteme wie ICD-10 und DSM-5 durch transdiagnostische Kategorien abgelöst werden, ist es noch ein weiter Weg3. Gemäss Prof. Knudsen wurden aber die ersten Schritte schon gemacht.

Auf diesem Weg leistet auch das bahnbrechende PRISM-Projekt tatkräftige Unterstützung, wie Prof. Martien Kas (Universität Groningen, Niederland) darlegte.

Wir brauchen einen datengesteuerten Ansatz, der sich auf Symptome, klinische Befunde, Bildgebung und die "-omik" stützt

PRISM - wirft neues Licht auf Gehirn und Verhalten

Das facettenreiche PRISM-Projekt leitet aus elektrophysiologischen Daten, Bildgebung, klinischen Merkmalen und Verhalten quantitative biologische Messwerte ab, welche die Entwicklung neuer Behandlungsmöglichkeiten für soziale und kognitive Defizite bei Alzheimer-, Schizophrenie- und Depressionspatienten ermöglichen werden4.

PRISM erforscht auch die der Kontaktfreudigkeit und dem Erkundungsverhalten zugrunde liegende Genetik - sowohl in Nagetiermodellen als auch in grossen, genomweiten Assoziationsstudien mit mehr als 300'000 Teilnehmern der UK Biobank. Auf diese Weise wurde bereits die Beteiligung von bestimmen genetischen Loci (und somit von potentiellen Wirkstoffzielen) an bekannten und neuen Signalwegen entdeckt.  

Bemerkenswert bei der PRISM-Initiative ist die passive Fernüberwachung durch eine App, die nicht nur die Telefonnutzung, sondern auch den geografischen Standort und das Ausmass der sozialen Interaktion erfasst5. Zwischen den Patientengruppen und gesunden, altersgleichen Kontrollgruppen zeigten sich dabei deutliche Unterschiede in den täglichen Aktivitätsrhythmen.

Fragen des Datenschutzes und der Datensicherheit sind dabei natürlich von zentraler Bedeutung6. Die bisherigen Projekt-Fortschritte erlaubten den PRISM-Forschern jedoch, mit den Aufsichtsbehörden Gespräche über die mögliche Nutzung Ihrer Daten als transdiagnostische digitale Biomarker aufzunehmen.

Die Highlights des Symposiums, die unser Korrespondent hier zusammenfasst, sollen die präsentierten wissenschaftlichen Inhalte objektiv wiedergeben. Die auf dieser Seite geäusserten Ansichten und Meinungen stimmen nicht unbedingt mit denen von Lundbeck überein.

Referenzen

  1. McEvoy PM, et al. J Cognitive Psychotherapy 2009;23:20–33
  2. Kwon O-Y, Park S-P. J Clin Neurol 2014;10:175-88
  3. Fusar-Poli P, et al. World Psychiatry 2019;18:192-207
  4. Bilderbeck AC, et al. Neuroscience and Biobehav Rev 2019;97:87-93
  5. van der Wee NJA, et al. Neuroscience and Biobehav Rev 2019;38-46
  6. Mulder T, et al. European Psychiatry 2018;54:57-58